Anker in der Zeit

Gedichte

Dinge, die sich nicht ändern,
sind wie Anker in der Zeit.
Wie die Tauben
auf dem Dachfirst des Waldhofes,
die seit Jahr und Tag
Morgensonne auf dem Gefieder haben.
Wie der Waldhof selbst,
wo der Großvater die Kühe zur Weide trieb,
dann der Vater
und nun der Sohn.

Dinge, die sich nicht ändern,
sind wie Anker in der Zeit.
An denen der Blick Halt findet,
an denen der Gedanke Halt findet,
im unablässigen Fortschritt,
der sich in Schichten
auf die Landschaft legt
und die Vertrautheit der Dinge
fremd überzieht.

Bis auch dieses Fremde
mit den Jahren
Gewohntes wird.
Während zugleich
die verlorenen Dinge noch immer
wie unsichtbare Löcher
in der erinnerten Gegend klaffen.

Vergangenes verschwindet
nie vollständig.
Es ruht nur verborgen
unter den Krusten
abgelaufener Zeit.

Die Kopfweiden am Weg,
der Kirchturm im Dorf,
die Tauben auf dem Dach
sind Gegenstand zahlloser Engramme –
wie Inschriften auf einem Stein
mir ins Gedächtnis geprägt –
sind Dinge, die sich nicht ändern,
sind Anker meiner Lebenswelt.

Text & Foto Sandra Blume

 

Am Muschelsaum

Gedichte
Am Muschelsaum des Meeres
Knirscht Zerschelltes unter den Füßen
Liegt, worauf die Wasser verzichten
Flattern Fetzen von Tang im Wind
Mit scharfem Schnabel wenden die Möwen
Vergangenes, Ausgeworfenes und
Glänzendes im Schlick
Während Welle um Welle
Neuen Nachlass ausgießt

In den salzigen Spülsaum der Zeit

Wir aber gehen unterm Gesang der Vögel
Und sammeln Erinnerungen ein
Muscheln, Stöcke und Steine
Die vielleicht überdauern

Oder die wir später woanders verstreuen

Am Horizont ziehen große Schiffe
Mit Hoffnung im Bauch zur See

 

Anker in der Zeit

Fotos, Miniaturen

Dinge, die sich nicht ändern, sind wie Anker in der Zeit. Wie die Tauben auf dem Dachfirst des Waldhofes, die seit Jahr und Tag Morgensonne auf dem Gefieder haben. Wie der Waldhof selbst, wo der Großvater die Kühe zur Weide trieb, dann der Vater und nun der Sohn. Wie der Eichenhain, unweit meines Hauses, in dem ich früher schaukelnd und mit zerkratzten Wangen in den Ästen hing. Über viele Jahre versperrten weidende Hochlandrinder den Weg zu den Bäumen. Nun ist das Wäldchen wieder zugänglich. Wie einst stehen die alten Bäume unbeeindruckt im Fluss der Zeit. Nicht unverändert: dreißig Jahre sind selbst für Bäume eine kleine Ewigkeit und zwischen den mächtigen Stämmen recken nun auch die Toten ihre letzten Äste wie silberne Arme in den Himmel … Zwischen den Wurzeln schlummert immer noch Unrat, vor Jahrzehnten hingeworfen und nun halb versunken, halb verschlungen vom Grün. Was haben wir als Kinder da alles gefunden: Bunte Scherben, alte Flaschen, Töpfe und Pfannen. Nichts davon heil und doch alles gut genug noch für unser Spiel. Gegenüber die Löwenzahnwiese und der kleine Bach, aus dem wir Wasser zum Kochen in löchrige Töpfe schöpften. Alles noch da.
Dinge, die geblieben sind, haben etwas Beruhigendes, sind Heimat und Anker zugleich.

 

 

 

Vom Fließen des Baches

Gedichte

Bach

Wiedergefunden habe ich den leise glucksenden Bach meiner Kindheit.
Leichtfüßig bin ich ans andere Ufer hinüber gesprungen,
das damals so weit mir schien.
So weit, wie der Gedanke, erwachsen zu sein.

Kaum zwei Schritte ist der Bach nun breit.
Sein Wasser fließt und trägt davon die Zeit.
Ein jedes Jahr, scheint mir, verflog ein wenig schneller.
Als hätte ich Sandkörner in der Hand gehalten
und der Wind ging darüber hin.

Und doch: das Jahr bleibt Jahr.
Es pocht der Takt der Tage und Minuten auf ewig gleich.
Verlangsamen muss ich die Stunden wieder
und ausdehnen den Moment.
Wie das Kind, das am Bach spielt und vergisst die Zeit.

 

Zeitzeichen

Gedichte

Schwan

Wie Worte schreibt die Zeit dir erste Zeichen ins Gesicht.
Noch schimmert deine Haut wie Seide.
Noch legen anerkennende Blicke
wie wärmendes Tuch auf deinen Nacken sich.

Doch jeden Morgen stehst du etwas langsamer auf.
Du tanzt und feierst nicht mehr ungestraft, bis alle Vögel singen.
Stattdessen stellst du fest, dass manche Träume
auf immer Träume bleiben müssen – du wirst kein Eislauf-Star.

Ein paar wesentliche Dinge hast du inzwischen verstanden:
du lebst im Jetzt und weißt, wie man das Leben wirklich spürt.
Genießt die Kostbarkeit der Augenblicke und dir ist klar,
dass eine zärtliche Geste mehr zählt, als alles,
was mit Geld sich kaufen lässt.

Und du hast begriffen, dass nicht das Gehen,
sondern Bleiben eine Kunst ist.
Man nähme doch sein Päckchen immer mit, denkst du,
und legst stattdessen ein paar neue Kissen auf die Couch.

Daran, wie dein Kind wächst, siehst fliehend du die Zeit vergehn.
Früher konntest du leichter lieben,
jetzt liebst du tiefer und suchst länger oder gar nicht mehr.

Das ist, wie eine Schwelle überschreiten
und nun, alle Mädchenallüren hinter sich lassend,
Frau zu sein.

©Poeta 2016