Vom Zauber der Namen

Gedichte

Ich mag, wie du meinen Namen
durch die Nacht sendest.
Wie du ihn eintippst am Tage
und losschickst, aller Erklärungen bloß.
Und ich lese ihn wie ein Rufen,
das fragt, ob ich noch da bin.
Oder wie ein Erstaunen –
sich vergewissernd, dass es mich gibt.
Wenn du ihn schreibst, wird er klangvoll.
Wie ein exotisch fernes Land,
das zu entdecken es sich lohnt.
Mein schlichter Name klingt
– von dir gesendet –
wie eine Zauberformel,
die Wünsche wahr macht oder Prinzen schickt.

Doch meine Haut ist dünn
wie ein zu oft benutztes Tuch vom vielen Waschen.
Und meine Vorsicht größer noch als jeder Wunsch.

Die Worte aber sind Magie, wie auch die Namen.
Mit einem Wort fing alles an
und wurde Licht.

 

©Poeta 2016

Holunders Ruh

Prosa
Ich ging diesen Weg zwischen den Feldern wohl an die hundert Mal. Im Frühjahr, im Sommer, im Herbst und im Winter. Bis ich die grüne Insel im weiten, kahlen Acker zum ersten Mal sah. Und etwas Großes, das dort inmitten blattverlorener Bäume stand. Ein Monument, ein Denkmal im Nirgendwo der Felder zwischen zwei kleinen Gehöften? Neugier hieß mich den Weg verlassen. Erdschollen, halbgefroren, glänzten unter meinen Stiefeln auf. Und schwer hing sich die feuchte Krume an jeden Schritt. Am Bachlauf, der das Feld zerteilte, ging ich zum Wasser nieder – es rann eiskalt durch meine Hand. Zwischen den welken Stengeln zahnlos gewordener Brennesseln lagen weiß verblichene Schneckenhäuser, die ich im Dutzend in die Taschen schob (weil man Schneckenhäuser immer brauchen kann). Nun war die Insel nicht mehr weit. Ein Hain von Holunderbäumen, der grün von Moos und Flechten in der Spätwintersonne leuchtete, umringte schützend, was groß und dunkel in seiner Mitte stand: Den trotzigen Torso einer greisen Baumriesin, einer Eiche – wohl viele hundert Jahre alt.
Wie eine zinnenbewehrte Burg steht ihr hoher, mächtiger Stumpf. Niedergebrochen und moosverwittert liegen zwei letzte, gewaltige Äste im nassen Gras. Eine morsche Bank – vor Jahrzehnten umgefallen und im eifrigen Ast eines Holunders festgewachsen – könnte von Liebespaaren erzählen, die hier am Abend saßen, von der Bäuerin, die ihre schwere Kiepe abstellt zur Rast oder vom Hirten, der hier Schatten fand. Doch diesen Ort hat lange keines Menschen Fuß betreten. Eine heilige, winterliche Ruhe liegt über allem. Erinnert sich wohl einer an den Baum und an den Weg, der einst an ihm entlang von Dorf zu Dorf geführt haben muss?
Wenige Tage später, als der Frühling kommt und der Urgroßvater vom Hof am Wald den Weg zu seiner Lieblingsbank nahe unseres Hauses findet, stelle ich meine immer noch drängende Rästelfrage zum Geheimnis von Baum und Weg. Und er erinnert sich: an eine Feldstraße, die einst noch ohne weite Biegung durch die Mitte der Äcker verlief und an deren Saum alte Bäume standen. Das waren jene Zeiten vor dem Krieg, als die Felder kleinen Bauern gehörten und das Land noch ohne Mauer war. Aus den beschaulichen Besitztümern wurden riesige Parzellen, auf denen immer größere Maschinen die Ernte einfuhren. Der Weg verschwand, die Bäume fielen – allein der Hain der alten Eiche blieb, vielleicht weil die Senke im Hang nicht gut bestellbar war. Und nur das Moos nahm noch auf dem Bänkchen Platz…

Im Sommer, wenn die Lerchen tirilierend in den Himmel steigen und die Bienen vieltausendfach in den Holunderblüten summen, verschwindet die Greisin mit ihrem Hain im undurchdringlichen, hohen Brennesseldickicht. Ringsherum wogen die Felder, beladen mit Korn oder leuchtendem Raps. Vergessen der Baum. Verschwunden die alte Bank. Liebespaare küssen sich am neuen Weg unterm Rotdorn vorm Sonnenuntergang sitzend.

Der Sommer verging. Gemäht war längst das Korn, als in den ersten Frösten die Brennesseln welkten. Munter plätscherte das Bächlein und die Vögel probierten zaghaft erste Frühlingstöne, da fand mein Fuß den Weg erneut  zum Eichenhain. Noch ein wenig dichter hatte das Astwerk der Holunderbäume seinen schützenden Ring gezogen, noch tiefer im Gras versunken lag die Ruhebank. Staunend stand ich vor aufgewühltem Erdreich zu Füßen des Stammes, in den nun eine Höhle führt. In die alte Eiche zog neues Leben ein: unterm Gewölbe ihrer tiefen Wurzeln grub sich ein Dachs sein Kesselhaus und hält auf weichem Moos mit all den Seinen Wintersruh. Bringe ich mein Ohr ganz dicht zum Baum, kann ich sie atmen hören.
©Poeta 2016

Dreiunddreißig mal mehr

Gedichte

Wie ein kleiner dunkler Fächer flattern ihre Wimpern,
wehren sich noch gegen Nacht und Schlaf.
Weiches Licht wirft lange Schatten,
müde schmiegt sie sich in meinen Arm.

Mit der Fingerspitze streich ich sachte ihr die Haare aus der Stirn,
fahr entlang der kleinen Nase und zurück bis an ihr Ohr.
Draußen singen alte Pappeln, in der Ferne bellt ein Hund.
Und ich atme leise, leise – goldnes Haar an meinem Mund.

Nichts duftet besser auf der Welt…
„Streichel mir den Rücken, Mama!“
Und ich steige mit den Fingern wirbelabwärts,
wie auf einer Treppe, die für kleine Elfen scheint.

Ich umkreise zarte Schulterblätter,
so spitz, als würden nächstens Flügel wachsen.
Die schmalen Rippen unter honigweicher Haut –
ihr kleiner Leib ist so verletzlich…

„Mama“, sagt sie, „von allen Menschen,
die ich ohnehin schon hundert Mal lieber habe als den Rest,
habe ich dich am allerliebsten.
Mindestens dreiunddreißig Mal mehr.“

Und ich fließe über vor Liebe.

©Poeta 2016