Von Händen, die Dinge bewahren

Fotos, Reisetagebuch

Es gibt Orte, die beinahe verloren gingen. Bis einer sie fand. Gefundene Orte, Found places wenn man so will, deren Verfall und Vergehen jemand Einhalt gebot. Schloss Herrenbreitungen, unter dem die Werra entlang glitzert, ist so ein Ort. Ich habe solche Hände, sagt der Schlossherr – als wir zum Sonnenuntergang in der westlichen Küche des Südflügels sitzen – die ziehen alte Dinge magisch an. Die Dinge kommen zu mir, damit ich sie bewahre. Nun bewahrt er ein ganzes Schloss. Und es ist voll von geschichtenerzählenden, alten Dingen. Wie das prallvolle Konservenregal, unten im Gewölbekeller. Dort steht Weckobst, über 50 Jahre schon im Glas, das aus der Haushaltsauflösung eines Bekannten stammt. Das konnte man doch nicht einfach wegwerfen. Was einst fleißige Hausfrauenhände liebevoll gepflückt, geputzt, geschnippelt und eingekocht hatten, darf nun in Würde verstauben und Besucher wie mich zurück in Kindertage und Großmutters Vorratskeller entführen.
Auch im sanierten Südflügel, wo die Hotelgäste in zauberhaften Gemächern residieren, findet man überall diese sanft glänzenden, alten Dinge. Auf Tischchen und Schränkchen, auf Treppensimsen, in Mauernischen und Bogenfenstern. Beinahe wie zufällig stehen sie da und sind doch mit Konzept drapiert – zumindest bis die Putzfrau durchkommt und ihren Plastikeimer dazwischen stellt. Beschwert sich schmunzelnd der Schlossherr. Eben hat er mir im letzten Abendlicht den noch weitgehend unsanierten Fürstenflügel gezeigt. Dort bin ich im letzten Sommer schon einmal heimlich herumgeschlichen. Als ich Gast war auf einer der zahlreichen Hochzeiten, die das Schloss an den Wochenenden mit Musik, Leben und Liebe füllen. Und da habe auch ich mich verliebt in dieses alte Gemäuer, das alten Dingen ein Zuhause gibt. Und sich trotz wachsender Wirtschaftlichkeit diesen Zauber des Unvollendeten, der sich im Stein erzählenden Geschichten, augenfällig bewahrt hat. Im Fürstenflügel waren nach dem Krieg Familien Heimatvertriebener untergebracht. An den Türen, von denen die Farbe blättert, stehen noch immer ihre mit Kreide angeschriebenen Familiennamen. Im blauen Turmzimmer, vor dessen Fenstern die Dohlen lärmen und wo der Putz von den Wänden platzt, würde der Schlossherr irgendwann gern selbst wohnen. Das ist ein Blau, sagt er, das findet man in keinem Baumarkt.
Das zarte Pastell erinnert mich an Vergissmeinnicht oder an glücklich verliebte Sommertage, als ich getanzt habe, drüben im Festsaal, über diesen alten, eingesunkenen Holzboden, auf dem die Möbel Seegang haben.
Vor dem Westfenster der Küche versinkt die Sonne langsam hinter der Werra im Wald. Der Schlossherr singt eine alte Weise dazu. Einfach so.
Ich betrachte seine Hände, die ein Schloss halten und tausend Geschichten dazu. Einfach so.

Der Leipziger Kunsthändler Martin Koenitz kaufte 2007 Schloss Herrenbreitungen, dass er Stein für Stein behutsam zu neuem Leben erweckt. Wer dort Feiern oder Übernachten möchte, findet unter www.schloss-breitungen.de alles Wissenswerte.
Text & Fotos: Sandra Blume, Mai 2017

Prag – vom Fluss betrachtet

Reisetagebuch
Ein Reisebericht
Fliederduftendes, wildtaubengurrendes, wassergrünes Prag. Ich bin zeitig aufgewacht auf meinen sacht schaukelnden Hotelboot, das in einem stillen Seitenarm der Moldau inmitten von Fliederhecken und grünenden Bäumen liegt. Die Stadt scheint fern.
Schwäne gleiten vorm Fenster vorbei, schnatternde Enten und ab und an ein frühes Ruderboot. Nur aus der Ferne erinnern unsanft Polizeisirenen daran, dass ich inmitten einer Millionenstadt liege…

 Ich habe rasch gefrühstückt (kaum dass die Sonne über Prags siebentem Hügel aufging) und mich auf den Weg in die Altstadt gemacht. Immer am Fluss entlang. Kilometer um Kilometer. Wie anders eine Stadt doch ist – von unten vom Fluss betrachtet. Aus der Entenperspektive. Alles treibt sachte nach Norden. Boote liegen schaukelnd im menschenleeren Yachthafen, eine Nutriafamilie kommt ans Ufer – angelockt von den Brotresten, die drei Obdachlose ins Wasser werfen; das Sonnenlicht webt geheimnisvolle Lichternetze auf die Wasseroberfläche, ihre Spiegelung lässt die Brückenpfeiler tänzeln; Angler dümpeln, ins Frühstücksbrot beißend, auf der Flussmitte. Brücke um Brücke spannt sich über mir auf.

Vielleicht, denke ich später, ist der Fluss, ist dieser breite Strom im Herzen der Stadt, Prags Tempogeber. Prag hat einen anderen Rhythmus. Es hastet nicht. Die Prager hasten nicht. Vielleicht eilen die Touristen in breiten Strömen, getrieben, von Schauplatz zu Schauplatz. Die Einheimischen aber haben ihre Vltava im Blut.
Vom Vyšehrad, dem Berg der Könige, der wie eine hohe Klippe über dem Fluss aufragt, duftet es intensiv nach Kerbel zu mir herab. Ich brauche eine Weile, bis ich den Geruch einordnen kann. Der Aufstieg ist ein Fest der Sinne: atemberaubende Ausblicke über die Moldau bis zur Prager Burg und darüber hinaus; Flieder, Flieder und gerade gemähte Hänge – denen der intensive Duft nach dem frischgeschnittenem, hier wild wachsenden Küchenkraut entspringt.

Der Burgberg erwartet mich beinahe menschenleer. Die Kirche ist noch verschlossen, auf dem Kirchhof harkt eine einsame Nonne die Wege. Aber was für ein Kirchhof!
Unter hohen Arkaden liegen die Großen des Landes in kunstvoll verzierten Séparées. Dvořáks Grab finde ich zufällig, ich suche nicht nach Prominenten. Ich lasse mich von der Neugier treiben. Kein Grabmal gleicht dem anderen: eine Viefalt an Formen, berührenden Skulpturen und bewegenden Inschriften. Darunter auch Kurioses, wie das Grabmal von Fräulein Aloisia Niemitz, Hausbesitzerin, gestorben am 23. Dezember 1895 in Prag, im 75. Jahre – möge sie in Frieden ruhen.

Später mit geschlossenen Augen am Moldauufer unter der Karlsbrücke sitzen. Bootsmotoren stampfen vorbei, irgendwo spielt jemand Violine, Stimmengewirr von allen Terrassen der Kleinseite. Neben mir ist ein tschechisches Paar ins Gespräch vertieft. Ihre sanfte Sprache schmeichelt meinen Ohren, wie beschwichtigende Liebkosungen einer Mutter klingen die vielen Sch-Laute. Eine Sprache wie Umarmungen, sanft wie der Fluss. Nur dann und wann unterbrochen von den harten deutschen Rufen lärmender Touristen.

Sitzen. Die Beine baumelnd über dem Fluss. Und alles vorbei ziehen lassen. Die Ausflugsboote, die Touristenströme auf der Brücke, die Kellner im Restaurant nebenan mit vollen und dann wieder leeren Tellern in den Händen. In die braunen Wasser der Moldau starren. Unrat, der vorbei treibt, Enten und Schwäne bettelnd um Brot, das ich nicht einstecken habe. Mittagshitze. Die Sonne brennt auf meinen Nacken, bleicht die Häuser am andern Ufer aus. Ich müsste aufstehen. Irgendetwas tun. Aber ich bleibe sitzen.

Die untergehende Sonne umgibt die Prager Burg mit einem Heiligenschein. Die Dächer und Fassaden auf der anderen Uferseite färben sich golden ein – Prag leuchtet.

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Ich weiß nicht, welches Instrument der junge Tscheche spielt, in diesen Minuten kurz nach Sonnenuntergang auf der Brücke. Touristenströme lichten sich, Schritte verlangsamen. Wer ein Herz hat zu hören, hält inne. Die weichen Schlägel weben auf der stählernen Trommel ein Netz aus Tönen; imitieren den Flügelschlag der Enten, die im Abendlicht von der Moldau auffliegen; klingen wie die Mücken im Tanz um das Standbild am Brückenrand – belauert von einer Spinne; klingen wie das Flimmern des orangefarbenen Lichts der Laternen in den sich kräuselnden Wellen. Es scheint, als würde der Fluss plötzlich besser fließen. Als hätte ihn einer verstanden.
Ich sitze auf der schmalen Brüstung. Der Blick in die Tiefe – schwindelerregend. Das ist wie ein Sog. Der Wind bläst zum Absturz, die Musik zieht mich hinunter zum Wasser.
Lass los, sagt sie, lass dich fallen. Vertraue und du kannst fliegen. Sicher geborgen in einem Netz aus Tönen.

 

Auch wenn der Name Kafka einem aus allen Ecken und auf allen Souvenieren entgegenschreit, Kafkas Prag oder viel mehr die Vorstellung davon, ist nicht mehr zu finden. Als ich vor 15 Jahren das erste Mal nach Prag reiste, gab es sie noch diese Straßen und Höfe und Gassen mit ihrem traurigen Charme. Prächtige Häuser – leise verfallend, herrliche Fassen – zeitgeschwärzt und bröckelnd im trüben Licht alter Laternen. Morbider Charme – Kafkas Prag. Heute strahlt die Stadt schön wie nie zuvor. Sie ist wahrlich golden, nicht nur zum Sonnenuntergang. Die Fassaden glänzen aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt, blitzsaubere, gut beleuchtete Gassen und Höfe machen die Zeiten früherer Prager Melancholie beinahe vergessen. Vielleicht hätte ich im November kommen sollen, wenn die Tage grau sind und die Nebel von der Moldau herauf durch die Straßen kriechen. Im hellen Sonnenschein wird jeder unheilvolle Schatten gnadenlos weggeleuchtet und das frische Grün lässt düstere Gedanken unmittelbar verkümmern.

Mein Boot ist ein Relikt. Die Kajüten haben Schiebefenster, wie man sie aus alten Eisenbahnwagen kennt. Kondenswasser sammelt sich zwischen den Scheiben, kleine rostige Rinnsale bilden sich an den Rändern. Braun vertäfelt sind die Wände, in vergilbtem Pfeffer und Salz gemustert der Teppichboden – es riecht, als hätte jahrelang niemand gelüftet. Holzbetten rechts und links des Fensters ohne Federung und mit durchgelegenen Matratzen. Ich habe zwei davon übereinander gestapelt – so ist es bequem. Zwischen den Betten ist ein kleiner, halbrunder Holztisch befestigt, auf den jemand, der es gut meinte, ein Väschen mit Plastikblumen stellte.
Auf diesem Boot ruht alle Zeit. Sommer und Winter kommen und gehen, das Boot liegt im Fluss und bewahrt Vergangenheit. Die Tür zum Deck ist am Morgen immer verschlossen, damit bloß keiner auf den Gedanken kommt, seinen Morgenkaffee mit hinaus nehmen zu wollen, aus dem Speiseraum mit den Papiertischdecken, auf denen die hinterbliebenen Ränder fremder Kaffeetassen vom gestrigen Frühstück erzählen. Und doch: ich liebe dieses Boot.  Ich liebe es der Stille wegen, ich liebe es, weil ich mich in den Fluss verliebt habe und ich liebe es aus ganz nostalgischen Gründen: weil es ein Stück von meinem alten Prag verkörpert, das ich in all dem Gold und Glanz nicht mehr finden konnte.
Reiseinfos: Unbedingt mit der Bahn anreisen und Zeit einplanen (der Eurocity ist fast immer verspätet) – die Fahrt ab Dresden entlang der Elbe durch die Sächsische Schweiz und später der Moldau in Sichtweite ist großartig. Am Besten sitzt man im Speisewagen. Das tschechische Angebot ist weit schmackhafter und sehr viel preisgünstiger als das der Deutschen Bahn. Zielbahnhof Praha – Holesovice. Von dort fährt die Tram Nr. 17 direkt bis zum Botel Radcek (Haltestelle Kublov und dann noch etwa 300 m in Fahrtrichtung laufen). Ohropax (falls laute Nachbarn im Nebenzimmer sind) und Luftmatratze nicht vergessen. Vom Botel aus läuft man etwa eine dreiviertel Stunde in die Altstadt, mit der Tram sind es 10 Minuten.